Wiederentdeckte Schätze der Science Fiction 4: Die große Revolution
von Horst Illmeram 16. November 2022
Paul Scheerbart
DIE GROSSE REVOLUTION – ein Mondroman.
LESABÉNDIO – ein Asteroiden-Roman.
Vorwort: Michael Marrak, Nachwort: Hans Frey
Berlin, Hirnkost, 2022, 408 S.
ISBN 978-3-949452-40-6 / 32,00 Euro (bzw. 28,00 Euro im Abonnement)
Hardcover mit Lesebändchen
Wiederentdeckte Schätze der Science Fiction, Band 4
Der „aus Wut“ zum Humoristen gewordene Berliner Boheme-Künstler Paul Scheerbart (1863–1915) gehört zu den wenigen wirklich eigenständigen Figuren der phantastischen Literatur. Während H. G. Wells, Kurd Laßwitz und Jules Verne (von Vorläufern wie Julius von Voss einmal abgesehen) zwischen 1870 und 1910 fast den gesamten Themenkanon der Science Fiction festschrieben, gelang es Paul Scheerbart, unabhängig und unbeeinflusst von diesen Unterhaltungsströmungen, einen Großteil dieser Themen in einer völlig eigenen Art aufzugreifen und zu verwenden. Dabei schrieb er in einem eigentümlichen Stil, der gewollt Simplizität mit mystischen Ideen und krudestem Humor vereinigte.
Einen ersten Eindruck dieser Unabhängigkeit gibt Scheerbart im „Mondroman“ DIE GROSSE REVOLUTION, der 1902 erschien und der ihm den großen Durchbruch beim Publikum bringen sollte. Allerdings erzählt er hier eine so weit von allem Gängigen entfernte satirisch-philosophische Geschichte, dass auch hundert Jahre später das Kunstverständnis der Leserschaft immer noch aufs Äußerste beansprucht wird. Kurz gesagt gibt es auf dem Mond zwei Parteien von Mondbewohnern: die einen wollen die seit Jahrhunderten andauernde Beobachtung der Erdbewohner fortführen, die andere Fraktion ist vom ewig Krieg führenden Homo Sapiens so enttäuscht, dass sie lieber von der Mondrückseite aus in die Ferne des Weltraums schauen wollen. Das alles beschreibt der Autor in einem Stilgemisch, dass sich in einigen Passagen wie ein Vorläufer der „New Wave“ der 1960er Jahre liest, aber auch schon in Einzelstellen auf den aufkeimenden Expressionismus hinweist.
Gleiches gilt für den 1913 veröffentlichten „Asteroiden-Roman“ LESABÉNDIO. Scheerbarts Meisterwerk über die Bewohner des Asteroiden Pallas, deren Anführer (und Titel-Held) Lesabéndio es versteht, ihrer aller Streben nach einem gemeinsamen Ziel hin auszurichten (der Vereinigung mit einer Plasmawolke) und der am Ende selbst zu einem Himmelskörper wird, sprüht geradezu über von skurrilsten Einfällen. Die geneigten Leser*innen werden bombardiert mit wirklich „fremden“ Lebensformen, mit einem politischen und kulturellen System, welches ein provozierend unvermitteltes Gegenbild zum Erdenleben darstellt, und mit einem absolut gesetzten ästhetischen Modell, das Technik und Philosophie ganz anders betrachtet und wertet als die traditionelle Science-Fiction-Literatur.
Ähnlich wie bei Olaf Stapledon gelingt es hier einem Außenseiter, in den Kosmos der phantastischen Literatur einzubrechen, ihn auszuweiten und um zwei wundervolle Werke reicher zu machen.
Horst Illmer
- Kategorie: Bücher , deutschsprachige Autoren , Horsts Bibliothek , Science Fiction
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von Horst Illmeram 16. November 2022
Paul Scheerbart
DIE GROSSE REVOLUTION – ein Mondroman.
LESABÉNDIO – ein Asteroiden-Roman.
Vorwort: Michael Marrak, Nachwort: Hans Frey
Berlin, Hirnkost, 2022, 408 S.
ISBN 978-3-949452-40-6 / 32,00 Euro (bzw. 28,00 Euro im Abonnement)
Hardcover mit Lesebändchen
Wiederentdeckte Schätze der Science Fiction, Band 4
Der „aus Wut“ zum Humoristen gewordene Berliner Boheme-Künstler Paul Scheerbart (1863–1915) gehört zu den wenigen wirklich eigenständigen Figuren der phantastischen Literatur. Während H. G. Wells, Kurd Laßwitz und Jules Verne (von Vorläufern wie Julius von Voss einmal abgesehen) zwischen 1870 und 1910 fast den gesamten Themenkanon der Science Fiction festschrieben, gelang es Paul Scheerbart, unabhängig und unbeeinflusst von diesen Unterhaltungsströmungen, einen Großteil dieser Themen in einer völlig eigenen Art aufzugreifen und zu verwenden. Dabei schrieb er in einem eigentümlichen Stil, der gewollt Simplizität mit mystischen Ideen und krudestem Humor vereinigte.
Einen ersten Eindruck dieser Unabhängigkeit gibt Scheerbart im „Mondroman“ DIE GROSSE REVOLUTION, der 1902 erschien und der ihm den großen Durchbruch beim Publikum bringen sollte. Allerdings erzählt er hier eine so weit von allem Gängigen entfernte satirisch-philosophische Geschichte, dass auch hundert Jahre später das Kunstverständnis der Leserschaft immer noch aufs Äußerste beansprucht wird. Kurz gesagt gibt es auf dem Mond zwei Parteien von Mondbewohnern: die einen wollen die seit Jahrhunderten andauernde Beobachtung der Erdbewohner fortführen, die andere Fraktion ist vom ewig Krieg führenden Homo Sapiens so enttäuscht, dass sie lieber von der Mondrückseite aus in die Ferne des Weltraums schauen wollen. Das alles beschreibt der Autor in einem Stilgemisch, dass sich in einigen Passagen wie ein Vorläufer der „New Wave“ der 1960er Jahre liest, aber auch schon in Einzelstellen auf den aufkeimenden Expressionismus hinweist.
Gleiches gilt für den 1913 veröffentlichten „Asteroiden-Roman“ LESABÉNDIO. Scheerbarts Meisterwerk über die Bewohner des Asteroiden Pallas, deren Anführer (und Titel-Held) Lesabéndio es versteht, ihrer aller Streben nach einem gemeinsamen Ziel hin auszurichten (der Vereinigung mit einer Plasmawolke) und der am Ende selbst zu einem Himmelskörper wird, sprüht geradezu über von skurrilsten Einfällen. Die geneigten Leser*innen werden bombardiert mit wirklich „fremden“ Lebensformen, mit einem politischen und kulturellen System, welches ein provozierend unvermitteltes Gegenbild zum Erdenleben darstellt, und mit einem absolut gesetzten ästhetischen Modell, das Technik und Philosophie ganz anders betrachtet und wertet als die traditionelle Science-Fiction-Literatur.
Ähnlich wie bei Olaf Stapledon gelingt es hier einem Außenseiter, in den Kosmos der phantastischen Literatur einzubrechen, ihn auszuweiten und um zwei wundervolle Werke reicher zu machen.
Horst Illmer
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