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Surrogates

von am 16. Februar 2012

Aus aktuellem Anlass möchte ich anhand des Comics "The Surrogates" von Robert Venditti und Brett Weldele ein paar Gedanken loswerden. Die Graphic Novel ist zwar nicht mehr ganz neu (©2006) und auch die Verfilmung hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel (2009), trotzdem ist das Thema heute genauso aktuell. Am letzten Sonntag (12.02.12) lief der Film als FreeTV-Premiere auf einem Privatsender. Natürlich mit all den Schnitten und Werbeunterbrechungen, die eine solche Ausstrahlung mit sich bringt, aber immerhin.

Die Umsetzung der Comic-Vorlage als Film ist, bis auf kleine Zugeständnisse an das Kinopublikum, nahezu eins zu eins. Ich hatte den Film damals im Kino gesehen, aber komischerweise ein bisschen aus dem Gedächtnis verloren. Eigentlich unverständlich, da der Weltentwurf eine geniale Parabel auf viele aktuelle Entwicklungen ist. Vielleicht liegt das ein klein wenig daran, dass die Handlung wesentlich weniger Bedeutung hat, als der Weltentwurf und eben die Botschaft, die hinter der Fassade verborgen liegt. Surrogates hat heute und jetzt eine ähnlich intensive Botschaft, wie seinerzeit die großen dystopischen Filme der Siebziger Jahre wie "Silent Running" oder "Soilent Green", deren Handlung auch meilenweit hinter der Botschaft zurückstand. Wie damals geht es um globale Wertevorstellungen, die in Frage gestellt werden.

Surrogates übersteigert die Realitätsentfremdung und Flucht ins virtuelle Leben, die in unserer heutigen Welt allgegenwärtig sind. "Second Life" als Realität. Die Menschen der Zukunft verlassen ihre vier Wände praktisch gar nicht mehr in Persona. Avatare bestreiten das tägliche Leben in der Realität. Avatare, die man je nach Geldbeutel und Gusto ausstatten kann. Eine Technologie, die ursprünglich dazu gedacht war, Menschen mit körperlichen Gebrechen ein Instrument zu geben, wieder ein normales Leben zu führen. Eine Technologie, die dem Menschen erlaubt, ohne Risiko alles zu sein und alles zu tun, wovon man immer geträumt hat. Völlig real und ohne Einschränkung. Die Technologie von James Camerons "Avatar" als Alltag. "Second Life" in der realen Welt. Eine "Schöne neue Welt" der Kens und Barbies, der Exzesse ohne Folgen, der Abenteuer ohne Reue. Alles ist real, oder eben nicht.

Die Problematik der Realitätsflucht und das unglaubliche Suchtpotential, einhergehend mit dem körperlichen Verfall der wahren Menschen, ist eine Potenzierung unserer virtuellen Realitäten. Die Kehrseite unserer realen "Schönen neuen Welt" des Internets, der globalen Vernetzung und unserer Konsumgesellschaft, in der alles jederzeit zur Verfügung steht. Die aktuelle Spaltung in der Wahrnehmung des Internet ist nicht nur ein Generationsproblem, sondern ein generiertes Problem. Längst ist es so, dass die neuen Möglichkeiten und unübersehbaren Vorzüge unser aller Verhalten und unser gesamtes Leben vollständig verändert haben. Es ist nur normal, dass es bei einer derart gewaltigen Veränderung auch Komplikationen und Differenzen gibt. Es ist nur verständlich, dass die Generation Prä-Internet eine andere Auffassung vertritt, als die Generation, die damit aufgewachsen ist und dass der wirklich brutale Werteumbruch auch zu einem verstärkten Generationenkonflikt führt. Was aber das wirkliche Problem darstellt, ist nicht die Diskrepanz zwischen den Generationen, sondern eigentlich die technologiebedingte Kluft zwischen User und Anwendung. Noch nie war eine technologische Entwicklung so rasant und gleichzeitig so perfide wie das Internet. Die Technik, die hinter der virtuellen Welt steht, die uns all die schönen, bunten Realitäten vorgaukelt, ist so spezifisch und komplex, dass niemand sie wirklich in ihrer Gänze durchschauen und verstehen kann. Spezialistentum auf allerhöchstem Niveau. Die Implikationen sind überall zu spüren.

Allein der Arbeitsmarkt, der sich eben auch durch diese Technisierung vollständig verändert hat und völlig anderen Gesetzen folgt, steht veralteten Instrumentarien und Wertevorstellungen gegenüber. Der Wert von Arbeit müsste in diesem Zusammenhang völlig neu bewertet werden, ja, selbst Überlegungen wie das bedingungslose Grundeinkommen sind verzweifelte Versuche, dieser Entwicklung gerecht zu werden. Radikal, aber wichtig und vielleicht auch richtig. Werte haben sich radikal geändert und wir brauchen radikale Ideen.

Eine überalterte Infrastruktur in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens steht kurz vor dem Kollaps. Über Jahrhunderte gewachsene Strukturen, beispielsweise im verbreitenden Handel sind über Nacht obsolet geworden, kann doch heute jeder bequem von zu Hause alle Geschäfte tätigen. Eine Tatsache, kein Glaubensbekenntnis. Der Einzelhandel hat und wird sich noch viel stärker aus dem alltäglichen Leben verabschieden. Die Lücke schließt sich – zum Teil – durch global agierende Filialisten und Konzerne. Eine Zentralisierung der Märkte ist unaufhaltsam und damit auch im Umkehrschluss der Instrumentarien.

Die Unterhaltungsmedien und das Internet nehmen einen ständig wachsenden Raum in unser aller Leben ein. Das Freizeitverhalten hat sich verändert, in gleichem Umfang wie die Arbeits- und Finanzmärkte. Die wunder"Schöne neue Welt" der Spiele, Filme, Social Networks und was weiß ich alles, nimmt immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch – und bieten dadurch eine immer größere Plattform für Analyse und Manipulation des Einzelnen. Keiner der großen philosophischen Anti-Utopisten hat sich auch nur im Traum vorstellen können, wie einfach wir es dem "System" einmal machen würden. Wie bereitwillig wir alle Schleier fallen lassen würden und uns durchleuchten und katalogisieren lassen würden. Produktive Zeit im konservativen Sinne ist prozentual zurückgegangen, unproduktive gewachsen. Virtuelle Welten füllen dieses Loch im Raum-Zeit-Kontinuum und am Ende bleibt für viele weniger Zeit als vorher. Die finanziellen Mittel der meisten Menschen der westlichen Welt verhalten sich proportional zum ständig sinkenden Bedarf an "normalen" Arbeitern und Berufstätigen – an ihre Stelle ist längst ein Heer von ungelernten Hotline-Drohnen, Dauerpraktikanten, Sozialdienst-Sklaven und Hartzvierlern getreten. Die Spezialisten, welche Programme für automatisierte Abläufe schreiben, damit weitere "normale" Arbeitsplätze vernichten und gleichzeitig durch das Erschaffen immer neuer virtueller Realitäten, für die anhaltende Dauerberieselung des Konsumviehs sorgen, verändern die Quote der Produktivität nur unwesentlich.

Der Schritt zu dem, im Comic von Venditti und Weldele beschriebenen Zustand, ist nicht mehr weit entfernt. Vielleicht ist das größere Übel in der Realität nicht die körperliche, sondern die geistige Degeneration und Hörigkeit, beziehungsweise die Entfremdung von der Realität und übergeordneten Zusammenhängen. Perfide gesteuert durch automatisierte Durchleuchtung und Beeinflussung – subtil und unmerklich, aber lawinenhaft schnell. Frustrierte, unterforderte, antriebslose Junkies sind dabei nur die Spitze des Eisberges. Viel schlimmer ist die breite Masse an "normalen" Menschen, in deren Leben sich diese neuen Einflüsse manifestiert haben. Alles ist schön, glatt, verfügbar, sozial vernetzt und rosarot. Das Erfolgserlebnis, das im richtigen Leben verwehrt wird, kann abgerufen werden. Scheu und Barrieren werden fallen gelassen, in der vermeintlichen Anonymität des Netzes. Downloads von Musik, Filmen, Spiele und Büchern ermöglichen eine sofortige Verfügbarkeit. Und dann kann man der Welt auch gleich noch mitteilen, was einem gefällt und was nicht. Nicht nur auf Facebook und Twitter, sondern auch noch auf Amazon oder Ebay. Damit arbeitet man unentgeltlich und freiwillig auch noch dieser Systematik zu. Wir sollten nie vergessen, dass diese Produktivität uns nicht nützt, sondern schadet. Dass wir nicht uns profilieren, sondern unsere Arbeit, unser Wissen und unseren Geschmack völlig umsonst zur Verfügung stellen, und zwar nicht, wie vermittelt der Gemeinschaft, sondern den betreffenden Konzernen.

Und genau da haben wir eines der klassischen Missverständnisse. Opensource, Community, Downloads, mp3-Sharing, Social Networks sind alles ambivalente Aspekte des Netzes. Die Strukturen für eine neue Ordnung hinken ganz einfach den technischen Voraussetzungen hinterher. Wenn alles verfügbar bleiben soll, brauchen wir auch neue Werte. Illegaler mp3-Download ist eben einfach Diebstahl und damit genau das gleiche wie in den Laden gehen und die CD klauen. Da können Verfechter offener Lizenzen schreien, so laut sie wollen. So lange unsere kapitalistische Struktur in ihrer jetzigen Form existiert, ist das auch völlig unangreifbar. Und wir alle werden uns auch noch umschauen, wie einfach es werden wird, für immer weniger Menschen immer mehr Geld zu bündeln. Die Frage ist dann nur, wer des alles konsumieren soll. Auch neue, wachsende Märkte sind begrenzt – genau wie umgekehrt auch die billigen Produktionsoasen. Irgendwann ist einfach das Ende der Fahnenstange erreicht und dann müssen wir die Strukturen verändern – und glaubt mir, das wird bitter.

Lieber jetzt – und sanft – erwachen und die Systematik überdenken, bevor der Untergang oder eine blutige Revolution vor der Tür steht. Beides ist nicht erstrebenswert, aber in letzter Konsequenz wahrscheinlicher, als dass der Wandel sanft von statten geht. Zu stark ist die Macht der bestehenden Strukturen, die wir jeden Tag mächtiger machen. Anders als im Film, im Comic oder im Roman gibt es leider für diese Situation keine einfache Lösung. Ein Aufstand, der die Menschheit erwachen lässt – ein Knopf, der alles lahmlegt, das uns korrumpiert, die guten Dinge aber erhält – eine schöne neue Welt, wie in Star Trek, ohne Geld, mit unbegrenzten Möglichkeiten für alle – eine "nette" Katastrophe, die uns zur Besinnung bringt, aber nur kosmetische Zerstörung verursacht – all das wird es weiterhin nur in Phantasiewelten zu lesen, zu spielen und zu träumen geben. Es ist sicher nicht verkehrt, solche Welten zu besuchen, vorausgesetzt, wir verlieren dabei nicht den Blick für die Realität und unsere Welt!

Surrogates

Brett Weldele, Robert Venditti

Cross Cult 2009, 26,00 €

ps noch ein nettes Zitat aus der aktuellen Werbung eines Mobilfunk-Anbieters: "Wir denken nicht wir googeln und das ist völlig ok"

warenkorbIhr könnt alle lieferbaren Artikel
im Webshop bestellen oder via e-mail im Laden anfragen

von am 16. Februar 2012

Aus aktuellem Anlass möchte ich anhand des Comics "The Surrogates" von Robert Venditti und Brett Weldele ein paar Gedanken loswerden. Die Graphic Novel ist zwar nicht mehr ganz neu (©2006) und auch die Verfilmung hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel (2009), trotzdem ist das Thema heute genauso aktuell. Am letzten Sonntag (12.02.12) lief der Film als FreeTV-Premiere auf einem Privatsender. Natürlich mit all den Schnitten und Werbeunterbrechungen, die eine solche Ausstrahlung mit sich bringt, aber immerhin.

Die Umsetzung der Comic-Vorlage als Film ist, bis auf kleine Zugeständnisse an das Kinopublikum, nahezu eins zu eins. Ich hatte den Film damals im Kino gesehen, aber komischerweise ein bisschen aus dem Gedächtnis verloren. Eigentlich unverständlich, da der Weltentwurf eine geniale Parabel auf viele aktuelle Entwicklungen ist. Vielleicht liegt das ein klein wenig daran, dass die Handlung wesentlich weniger Bedeutung hat, als der Weltentwurf und eben die Botschaft, die hinter der Fassade verborgen liegt. Surrogates hat heute und jetzt eine ähnlich intensive Botschaft, wie seinerzeit die großen dystopischen Filme der Siebziger Jahre wie "Silent Running" oder "Soilent Green", deren Handlung auch meilenweit hinter der Botschaft zurückstand. Wie damals geht es um globale Wertevorstellungen, die in Frage gestellt werden.

Surrogates übersteigert die Realitätsentfremdung und Flucht ins virtuelle Leben, die in unserer heutigen Welt allgegenwärtig sind. "Second Life" als Realität. Die Menschen der Zukunft verlassen ihre vier Wände praktisch gar nicht mehr in Persona. Avatare bestreiten das tägliche Leben in der Realität. Avatare, die man je nach Geldbeutel und Gusto ausstatten kann. Eine Technologie, die ursprünglich dazu gedacht war, Menschen mit körperlichen Gebrechen ein Instrument zu geben, wieder ein normales Leben zu führen. Eine Technologie, die dem Menschen erlaubt, ohne Risiko alles zu sein und alles zu tun, wovon man immer geträumt hat. Völlig real und ohne Einschränkung. Die Technologie von James Camerons "Avatar" als Alltag. "Second Life" in der realen Welt. Eine "Schöne neue Welt" der Kens und Barbies, der Exzesse ohne Folgen, der Abenteuer ohne Reue. Alles ist real, oder eben nicht.

Die Problematik der Realitätsflucht und das unglaubliche Suchtpotential, einhergehend mit dem körperlichen Verfall der wahren Menschen, ist eine Potenzierung unserer virtuellen Realitäten. Die Kehrseite unserer realen "Schönen neuen Welt" des Internets, der globalen Vernetzung und unserer Konsumgesellschaft, in der alles jederzeit zur Verfügung steht. Die aktuelle Spaltung in der Wahrnehmung des Internet ist nicht nur ein Generationsproblem, sondern ein generiertes Problem. Längst ist es so, dass die neuen Möglichkeiten und unübersehbaren Vorzüge unser aller Verhalten und unser gesamtes Leben vollständig verändert haben. Es ist nur normal, dass es bei einer derart gewaltigen Veränderung auch Komplikationen und Differenzen gibt. Es ist nur verständlich, dass die Generation Prä-Internet eine andere Auffassung vertritt, als die Generation, die damit aufgewachsen ist und dass der wirklich brutale Werteumbruch auch zu einem verstärkten Generationenkonflikt führt. Was aber das wirkliche Problem darstellt, ist nicht die Diskrepanz zwischen den Generationen, sondern eigentlich die technologiebedingte Kluft zwischen User und Anwendung. Noch nie war eine technologische Entwicklung so rasant und gleichzeitig so perfide wie das Internet. Die Technik, die hinter der virtuellen Welt steht, die uns all die schönen, bunten Realitäten vorgaukelt, ist so spezifisch und komplex, dass niemand sie wirklich in ihrer Gänze durchschauen und verstehen kann. Spezialistentum auf allerhöchstem Niveau. Die Implikationen sind überall zu spüren.

Allein der Arbeitsmarkt, der sich eben auch durch diese Technisierung vollständig verändert hat und völlig anderen Gesetzen folgt, steht veralteten Instrumentarien und Wertevorstellungen gegenüber. Der Wert von Arbeit müsste in diesem Zusammenhang völlig neu bewertet werden, ja, selbst Überlegungen wie das bedingungslose Grundeinkommen sind verzweifelte Versuche, dieser Entwicklung gerecht zu werden. Radikal, aber wichtig und vielleicht auch richtig. Werte haben sich radikal geändert und wir brauchen radikale Ideen.

Eine überalterte Infrastruktur in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens steht kurz vor dem Kollaps. Über Jahrhunderte gewachsene Strukturen, beispielsweise im verbreitenden Handel sind über Nacht obsolet geworden, kann doch heute jeder bequem von zu Hause alle Geschäfte tätigen. Eine Tatsache, kein Glaubensbekenntnis. Der Einzelhandel hat und wird sich noch viel stärker aus dem alltäglichen Leben verabschieden. Die Lücke schließt sich – zum Teil – durch global agierende Filialisten und Konzerne. Eine Zentralisierung der Märkte ist unaufhaltsam und damit auch im Umkehrschluss der Instrumentarien.

Die Unterhaltungsmedien und das Internet nehmen einen ständig wachsenden Raum in unser aller Leben ein. Das Freizeitverhalten hat sich verändert, in gleichem Umfang wie die Arbeits- und Finanzmärkte. Die wunder"Schöne neue Welt" der Spiele, Filme, Social Networks und was weiß ich alles, nimmt immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch – und bieten dadurch eine immer größere Plattform für Analyse und Manipulation des Einzelnen. Keiner der großen philosophischen Anti-Utopisten hat sich auch nur im Traum vorstellen können, wie einfach wir es dem "System" einmal machen würden. Wie bereitwillig wir alle Schleier fallen lassen würden und uns durchleuchten und katalogisieren lassen würden. Produktive Zeit im konservativen Sinne ist prozentual zurückgegangen, unproduktive gewachsen. Virtuelle Welten füllen dieses Loch im Raum-Zeit-Kontinuum und am Ende bleibt für viele weniger Zeit als vorher. Die finanziellen Mittel der meisten Menschen der westlichen Welt verhalten sich proportional zum ständig sinkenden Bedarf an "normalen" Arbeitern und Berufstätigen – an ihre Stelle ist längst ein Heer von ungelernten Hotline-Drohnen, Dauerpraktikanten, Sozialdienst-Sklaven und Hartzvierlern getreten. Die Spezialisten, welche Programme für automatisierte Abläufe schreiben, damit weitere "normale" Arbeitsplätze vernichten und gleichzeitig durch das Erschaffen immer neuer virtueller Realitäten, für die anhaltende Dauerberieselung des Konsumviehs sorgen, verändern die Quote der Produktivität nur unwesentlich.

Der Schritt zu dem, im Comic von Venditti und Weldele beschriebenen Zustand, ist nicht mehr weit entfernt. Vielleicht ist das größere Übel in der Realität nicht die körperliche, sondern die geistige Degeneration und Hörigkeit, beziehungsweise die Entfremdung von der Realität und übergeordneten Zusammenhängen. Perfide gesteuert durch automatisierte Durchleuchtung und Beeinflussung – subtil und unmerklich, aber lawinenhaft schnell. Frustrierte, unterforderte, antriebslose Junkies sind dabei nur die Spitze des Eisberges. Viel schlimmer ist die breite Masse an "normalen" Menschen, in deren Leben sich diese neuen Einflüsse manifestiert haben. Alles ist schön, glatt, verfügbar, sozial vernetzt und rosarot. Das Erfolgserlebnis, das im richtigen Leben verwehrt wird, kann abgerufen werden. Scheu und Barrieren werden fallen gelassen, in der vermeintlichen Anonymität des Netzes. Downloads von Musik, Filmen, Spiele und Büchern ermöglichen eine sofortige Verfügbarkeit. Und dann kann man der Welt auch gleich noch mitteilen, was einem gefällt und was nicht. Nicht nur auf Facebook und Twitter, sondern auch noch auf Amazon oder Ebay. Damit arbeitet man unentgeltlich und freiwillig auch noch dieser Systematik zu. Wir sollten nie vergessen, dass diese Produktivität uns nicht nützt, sondern schadet. Dass wir nicht uns profilieren, sondern unsere Arbeit, unser Wissen und unseren Geschmack völlig umsonst zur Verfügung stellen, und zwar nicht, wie vermittelt der Gemeinschaft, sondern den betreffenden Konzernen.

Und genau da haben wir eines der klassischen Missverständnisse. Opensource, Community, Downloads, mp3-Sharing, Social Networks sind alles ambivalente Aspekte des Netzes. Die Strukturen für eine neue Ordnung hinken ganz einfach den technischen Voraussetzungen hinterher. Wenn alles verfügbar bleiben soll, brauchen wir auch neue Werte. Illegaler mp3-Download ist eben einfach Diebstahl und damit genau das gleiche wie in den Laden gehen und die CD klauen. Da können Verfechter offener Lizenzen schreien, so laut sie wollen. So lange unsere kapitalistische Struktur in ihrer jetzigen Form existiert, ist das auch völlig unangreifbar. Und wir alle werden uns auch noch umschauen, wie einfach es werden wird, für immer weniger Menschen immer mehr Geld zu bündeln. Die Frage ist dann nur, wer des alles konsumieren soll. Auch neue, wachsende Märkte sind begrenzt – genau wie umgekehrt auch die billigen Produktionsoasen. Irgendwann ist einfach das Ende der Fahnenstange erreicht und dann müssen wir die Strukturen verändern – und glaubt mir, das wird bitter.

Lieber jetzt – und sanft – erwachen und die Systematik überdenken, bevor der Untergang oder eine blutige Revolution vor der Tür steht. Beides ist nicht erstrebenswert, aber in letzter Konsequenz wahrscheinlicher, als dass der Wandel sanft von statten geht. Zu stark ist die Macht der bestehenden Strukturen, die wir jeden Tag mächtiger machen. Anders als im Film, im Comic oder im Roman gibt es leider für diese Situation keine einfache Lösung. Ein Aufstand, der die Menschheit erwachen lässt – ein Knopf, der alles lahmlegt, das uns korrumpiert, die guten Dinge aber erhält – eine schöne neue Welt, wie in Star Trek, ohne Geld, mit unbegrenzten Möglichkeiten für alle – eine "nette" Katastrophe, die uns zur Besinnung bringt, aber nur kosmetische Zerstörung verursacht – all das wird es weiterhin nur in Phantasiewelten zu lesen, zu spielen und zu träumen geben. Es ist sicher nicht verkehrt, solche Welten zu besuchen, vorausgesetzt, wir verlieren dabei nicht den Blick für die Realität und unsere Welt!

Surrogates

Brett Weldele, Robert Venditti

Cross Cult 2009, 26,00 €

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11 Kommentare zu “Surrogates”

  1. Gerd sagt:

    Okay, lass es mich auf Superheldenart sagen 😉
    "Mit großer Macht kommt große Verantwortung" könnte man zum Anfang einmal als Postulat stehen lassen.

    Beginnen wir mit dem Punkt, woraus Macht entsteht oder entstehen kann und was Macht ist. Macht ist eine Kraft, die die Möglichkeit verleiht, Dinge zu verändern. Im Zweifelsfall auch gegen den Willen anderer. Im derzeitigen System unserer westlichen Welt gibt es grob gesagt drei Hauptformen von Macht.

    Einmal die politische Macht, die jeder einzelne in gewissem Maße innehält und die natürlich immer größer wird, je mehr Menschen hinter einem Einzelnen stehen, beziehungsweise ihn gewählt haben. Also eine Hierarchische Machtstruktur, die im besten Fall wirklich funktioniert, im schlechtesten Fall jedoch durch bestehende Strukturen zu einer selbsterhaltenden Institution wird.
    Zum zweiten, die Macht des Geldes in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Im besten Fall eine gerechte Belohnung für entsprechende Leistung. Im schlimmsten fall aber auch wieder ein Kastensystem, das einen großen Teil der eigenen Macht in den Erhalt dieser steckt und damit auch wieder selbsterhaltend agiert.
    Als dritte Form der Macht gibt es natürlich die Archaischste und Ursprünglichste. Die Macht des Stärkeren, in unserer Welt, des besser Ausgerüsteten, mit dem größeren Waffenarsenal. Diese Macht kann man natürlich auch wieder im positiven Sinne als polizeiliche oder soger weltpolizeiliche Kraft sehen, um beispielsweise gegen Terror oder Tyrannei zu kämpfen.

    Alle drei Aspekte der Macht leben davon, dass die "Mächtigen" (hoffentlich) ihrer großen Verantwortung gerecht werden!
    Vielleicht hat aber auch schon jeder Einzelne von uns große Verantwortung. Völlig unabhängig von großer Macht.
    Verantwortung für sich selbst und alle anderen. Polemisch ist es ganz einfach auf den Punkt zu bringen. Verantwortung vor der Natur – auf Verbrennungsmotoren zu verzichten, den Plasmabildschirm nicht 10 Stunden flimmern zu lassen.
    Verantwortung für die Menschen um uns herum. Kinder erziehen, nicht dem Geld hinterherrennen und die Kinder dem Staat überlassen. Alte zu pflegen, anstatt unterbezahlte Sozialkräfte über Versicherungen zu finanzieren. Dem Nachbarn zu helfen, wenn sein Auto nicht anspringt, anstatt das schnell gedrehte Video auf Youtube zu stellen.
    Ja und eben Verantwortung für uns selbst. Die Verantwortung, all das zu erkennen.
    Freiheit im Sinn, wie sie heute interprätiert wird, muss darunter natürlich leiden. Verzicht auf den Sportwagen, das Motorrad, Zeit für den Nachbarn, nicht für die Konsole. Sich mit politischen Zusammenhängen beschäftigen, anstatt sich die Nägel zu lackieren oder ins Fitnessstudio zu gehen. Freiheit für alle bedeutet Verantwortung dem Nächsten gegenüber. Genauso im Sinne traditioneller Werte, wie sie die meisten Religionen vorschreiben wie im humanistisch aufgeklärtem Sinn. Dieser scheinbare Verzicht, der uns durch unser System sugeriert wird, würde sich tausendfach zurückzahlen. Freiheit hat vielleicht eher etwas mit einfachem Glück zu tun, als mit der Freiheit, sich alles leisten zu können.

    Vielleicht hat auch deshalb eben dieser Peter Parker, der sich um seine Umwelt kümmert, dem nicht alles um ihn herum egal ist so große Macht. Peter hat stets nicht nur gegen Superschurken gekämpft, sondern mit dem einhalten seiner eigenen moralischen Grundsätze. Im Großen und im Kleinen. Ich denke, dass gerade das annehmen seiner Verantwortung ein Teil seiner individuellen Freiheit ist. Wenn wir alle etwas wacher und aufmerksamer wären, konnten wir viel mehr bewirken. Wer eine Meinung hat, lässt sich nicht so einfach lenken. Wer einen Charakter hat, lässt sich nicht so einfach formen und wer sich frei fühlt, muss sich nicht den Schein erkaufen.

  2. Kain Wolfshead sagt:

    @ Gerd: Jetzt würde mich aber mal interessieren, wie Du wahre und individuelle Freiheit definierst und vielleicht sogar unterscheidest.

  3. Gerd sagt:

    @Kiddy: Jepp
    Aber trotzdem gibt es da einen gravierenden Unterschied. Bei Brazil ist die geistige Umnachtung eine Flucht vor der Realität in der Realität ist die geistige Umnachtung Methode für manipulative Sedierung 😉 (ohne jetzt religionskritisch sein zu wollen) Selig sind die geistig Armen stimmt natürlich nicht im Umkehrschluß. Außerdem bin ich mir auch nicht sicher, ob bei diesem Glaubensmodel überhaupt so etwas wie Erkenntnis kommen soll. Stellt euch mal vor, dir wird dann die Wahrheit im Jenseits bewußt! Oder bleiben wir im Afterlife genauso blöd wie hier und heute?

    @Kain magst recht du haben…
    bei einer Gruppe, die so klein ist, gibt es schon eine Chance auf einen gewissen Konsens. Zumal es keine zufällig gewählten Zehn sind, sondern freiwillig, durch eigene Entscheidung Zusammengekommene sind! Du weist ja, dass alles was darüber hinaus geht, nur durch Basisdemokratie zusammengehalten werden kann 😉
    Bis zehn funktioniert noch die häuslich-patriarchalische Diktatur!

    Im Grunde meines Herzens möchte ich diese Zerstreuung nur, weil polemische Diskussionen wesentlich unterhaltsamer als Quelltexte, FiBu oder Warenwirtschaft sind! Ich will unterhalten werden! Bähähä!

  4. Kain Wolfshead sagt:

    @ Gerd: Ich kann mir schon vorstellen, dass Leser dieses Blogs ziemlich auf einer Wellenlänge sind. -_-

  5. Kiddy sagt:

    @Gerd: Der Wandel über das Empfinden von Freiheit hat sich natürlich vollzogen. Wenn du einen Nordafrikaner und einen Europäer zum Thema Freiheit befragen würdest, kämen zwei völlig unterschiedliche Ansichten und Schwerpunkte zu Tage. Aber ich erinnere dich gerne an das Ende von "Brazil", wo ich der Meinung war, dass er frei im Geiste geblieben ist und er sein Happy End hat, obwohl sein Körper gefangen bleibt. Und ja, das ist die Frage. Ist das worin wir leben eine von uns empfundene Freiheit, die uns vorgelegt wurde, wie der Traum in den er sich geflüchtet hat? Ich denke schon.

  6. Kain Wolfshead sagt:

    Ich habe nicht gesagt, dass Du Amazon angegriffen hast. Das war ja eine Ergänzung von mir … Dass ich es nicht nutze ist ja meine Entscheidung. Amazon hat auch sicher seine Vorteile. Als ersten natürlich, dass es sehr bequem ist. Persönlich finde ich aber, dass die Nachteile überwiegen. Aber das hatten wir schon öfter im Laden besprochen …

  7. Gerd sagt:

    Okay, okay!
    Natürlich will ich keine identische Meinung lesen. Ihr habt ja recht. Aber mir selbst fallen ja zu all den Themen, die ich angekratzt habe zehn verschiedene Sichtweisen ein.

    @Kain: ich habe a… übrigens nicht angegriffen. Das steht für mich eher stellvertretend für eine völlig neue Marktstruktur. Und ich ziehe meinen Hut und beuge mein Haupt in Ehrfurcht, wie perfekt diese Firma unser System genutzt hat um. Besser kann man es nicht machen. Da Geld der zentrale Antrieb in unserer Welt ist, bedeutet dessen Erwirtschaftung Erfolg. Wer es schafft ein Quasi-Monopol zu erzeugen, ist einfach genial! a… ist heute schon Synonym für Bücher kaufen und auf dem besten Weg, das gleiche auch in Punkto vieler anderer Bereiche zu werden.

    @Kiddy: Die alte Frage, ist individuelle Freiheit wirklich wichtiger, als das Empfinden von Freiheit, wenn mit wahrer Freiheit Arbeit und Verantwortung verbunden ist? Der Bedeutungswandel des Wortes "Freiheit" von einer ideellen, philosophischen Sicht intellektueller Freidenker ist zu einer Werbephrase geworden, die Freizeitspaß, Style und Status propagiert.

    Aber zurück zum Kern. Wenn es keinen Widerspruch und keine Kontroverse Diskussion zu diesem Beitrag gibt, warum ist dann unsere Welt, wie sie ist? Oder lesen diesen Blog nur die "Guten"? 😉

  8. Kain Wolfshead sagt:

    Nun ja, Gerd will eine Diskussion. Die kann ich ihm nicht bieten, da ich mit ihm übereinstimme. Ich könnte das alles wiederholen. Aber würde das jemanden zu einer (kontroversen) Diskussion anregen? Dann hätte man das ganze einfach in zwei verschiedenen Formulierungen.

    Ich könnte noch hinzufügen, dass ich grundsätzlich nicht bei Amazon einkaufe weil ich die für absolut schädlich halte.

  9. Kiddy sagt:

    Dieser Kommentar ist, vielleicht ungewollt, ein Paradebeispiel für die Apathie, die im Bereich Internet bei solchen Themen vorherrscht. Ich bin jetzt schon gespannt wie die Generation nach mir die Sache angehen wird. Sie werden in diese unpersönliche, scheinbar meinungsfreie, apathische Welt hinein geboren, und wissen nicht was es heißt offen für sich und seine Überzeugungen einzustehen, um etwas zu kämpfen oder einfach nur selbständig nachzudenken. Immer mehr Zeit wird im digitalen Äther verbracht. Man wird bewusst und unbewusst mit tausenden von Sachen geimpft und man verliert den Bezug zur Realität und seine eigene Objektivität. Man wird auf Meinungen und Geschmack derjenigen getrimmt, die verkaufen und erolgreich sein wollen.
    Berufsbedingt bin ich häufiger im Netz als andere und sehe wie die "globale Vernetzung" meistens genutzt wird. Die Entfernung zu solchen Avataren ist nur noch eine technische Hürde. Second Life oder Social Networks bieten die Leistung Avatar bereits an. Du kannst dich neu erfinden, besser werden, dich hinter einer scheinbar sicheren Fassade verstecken. Keine Konfrontationen eingehen, die man nicht einfach mit einem Klick beenden kann.
    Genau aus diesem Grund bin ich stolz auf Gerd und Bernie, da sie auf ihrer Website dem Medium Internet zu ein wenig Niveau verhelfen. Vielleicht sind es manchmal unangenehme Themen, aber es ist wichtig ein wenig gerüttelt zu werden in einer Welt, die nichts anderes im Sinn hat als einen einzulullen. Könnte ich ihre persönlichen Daten haben? Ja, klar. Und können sie vielleicht noch ein wenig uninteressierter und verblödeter agieren? Mit Vergnügen! So, hat sich keiner vor zwanzig Jahren die Zukunft vorgestellt.
    Also was soll man groß dazu sagen…. Denkt einfach mal nach!

  10. Kain Wolfshead sagt:

    Was soll man dazu auch groß sagen …

  11. Gerd sagt:

    Ich muss sagen, ein wenig mehr kontroverse Diskussion hätte ich mir schon gewünscht. Seid ihr alle im Winterschlaf, oder hab ich Blech geredet?
    …oder…

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